Der Stein des Anstoßes
"desertieren. Ein Gedenk-Einsatz" nahm die Deserteure der Wehrmacht und deren Unterstützerinnen und Unterstützer in den Blick und machte eine Leerstelle in der Erinnerungs- und Gedenklandschaft sichtbar. Am 5. Mai 2025 haben Freiwillige in einer aufsehenerregenden Aktion einen 40 kg schweren Stein vom Paschberg südlich von Innsbruck, wo die Wehrmachtsjustiz abgeurteilte Deserteure hinrichten ließ, in die Innenstadt getragen. Dort bildete der Stein für einige Stunden ein temporäres Denkmal und den Anstoß für informative Hintergrundgespräche und intensive Begegnungen.
Erinnerungsstatus: kompliziert
Die Reihe an Audiofeatures "Erinnerungsstatus: kompliziert" begleitete die Realisierung des Projekts "desertieren. Ein Gedenk-Einsatz". Gemeinsam mit Beteiligten und Fachleuten werden darin die unterschiedlichsten Facetten des Themas Deserteure der Wehrmacht und deren Unterstützerinnen und Unterstützer beleuchtet. Hintergründe werden vor- und unterschiedliche Zugänge dargestellt; und in der letzten Episode können Sie die Geschehnisse im Zuge des Gedenk-Einsatzes am 5. Mai 2025 nachhören.
Episode #1 | Innsbrucks Wehrmachtsdeserteure
Der Historiker Peter Pirker erklärt, wieso Deserteure sich dazu entschieden haben, die Wehrmacht zu verlassen, wer die Innsbrucker Deserteure waren und wie sich die Erinnerungskultur in den letzten Jahren entwickelt hat. Im Anschluss hören Sie das Gespräch zwischen den Mitgliedern des Projektteams Richard Schwarz, Irene Heisz, Johannes Felder und Ágnes Czingulszki über Aspekte des Erinnerns und ihren eigenen Zugang zum Thema.
Episode #2 | Der Paschberg als Hinrichtungsstätte
Christina Müller erzählt, wie sie im Zuge ihres Studiums der Politikwissenschaft auf den Spuren eines Gerüchts über die Geschehnisse am Paschberg forschte und welchen Hürden sie begegnet ist. Außerdem hören Sie Ausschnitte aus jenen Gesprächen, die sie dabei mit den mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen geführt hat.
Zu Wort kommen in dieser Episode auch Martin Schönherr vom Blog paschberg.blogspot.com, der über den Paschberg und seinen Bezug zu ihm erzählt, bzw. Helmut Muigg vom Bund der Sozialdemokratischen FreiheitskämpferInnen Tirol, der die Umstände der archäologischen Ausgrabungen vor Ort beleuchtet.
Schauspielerin Lisa Hörtnagl lieh den Zeitzeuginnen Elisabeth Lener, Ruth Ebner und Gertrud Brunner ihre Stimme, Schauspieler Günther Lieder seine den Zeitzeugen Adolf Mölschl und Franz Sillober.
Episode #3 | Die Pradler Deserteursgruppe
In dieser Episode hören Sie vom Schicksal der Pradler Deserteursgruppe rund um Ernst Federspiel. Durch den Raubüberfall auf einen Rauchwarenladen im Jahr 1944 flog die Deserteursgruppe auf. Eine Person kam bei der Festnahme ums Leben, eine andere wurde verletzt, mehrere Personen kamen ins Gefängnis. Ernst Federspiel selbst wurde in Folge wegen Fahnenflucht hingerichtet. Polizeiakten dokumentieren diesen Fall, der viele verschiedene Schicksale miteinander verbindet und ein eindrückliches Bild von den damaligen Geschehnissen liefert.
Der Dank für das Zustandekommen dieser Episode gilt den Interviewpartnern Anton Walder und Peter Hellensteiner vom Fachzirkel Exekutivgeschichte, Historisches Archiv LPD-Tirol, und dem pensionierten Juristen Harald Stockhammer.
Sprecherin und Sprecher: Johannes Felder, Lisa Hörtnagl und Günther Lieder.
Episode #4 | Familie, Helferinnen und Helfer
Mehr als zwei Jahre war der Wehrmachtsdeserteur Ernst Federspiel auf der Flucht. Helferinnen und Helfer aus dem nahen Umfeld ermöglichten es ihm, so lange unterzutauchen. Seine abenteuerliche Fluchtgeschichte gibt Einblick in sein Netzwerk und was es bedeutete, einem Deserteur zu helfen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Elisabeth Federspiel, der Mutter von Ernst Federspiel, und anderen Frauen, die den jungen Mann bei seiner Flucht unterstützten.
Auskunft geben dazu in dieser Episode die Historikerin Christina Müller, der Historiker Peter Pirker und der pensionierte Jurist Harald Stockhammer. Zudem hören Sie Zitate aus Originaldokumenten und Ausschnitte aus dem Zeitzeuginnen-Interview mit der Tochter Ernst Federspiels.
Sprecherin und Sprecher: Johannes Felder, Lisa Hörtnagl und Günther Lieder.
Episode #5 | Desertion aus Sicht eines Soldaten
Herbert Bauer war sein Leben lang Soldat. Der Generalmajor im Ruhestand war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020 Militärkommandant von Tirol. Seine Sicht auf Desertion, auf Soldaten, die die Truppe unerlaubt verlassen, ist daher vor allem eine militärische. Mit ihm reden wir nicht nur darüber, was es für die Kameraden bedeutet, wenn jemand die Truppe unerlaubt verlässt, sondern auch darüber, wie Desertion aktuell in Österreich bewertet wird und welche Möglichkeiten Soldatinnen und Soldaten haben, die glauben, bestimmte Befehle verstoßen gegen das Gesetz oder sind mit ihrem Gewissen unvereinbar. Auch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die gesellschaftliche und politische Aufarbeitung der Geschichte von Wehrmachtsdeserteuren in Österreich bekommen Platz in dieser Episode.
Episode #6 | "desertieren. Ein Gedenk-Einsatz"
In der letzten Episode von "Erinnerungsstatus: kompliziert" begleiten wir den Weg eines 40 kg schweren Steins vom ehemaligen Steinbruch am Paschberg ins Zentrum der Stadt Innsbruck. Zahlreiche freiwillige Helferinnen und Helfer nahmen am 5. Mai 2025 teil an der Aktion des Konzeptkünstlers Richard Schwarz, der damit einen Anstoß für die gemeinsame Erinnerung und Auseinandersetzung mit Deserteuren der Wehrmacht gibt. Das Datum ist ein besonderes, ist doch der 5. Mai der österreichische Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.
Was die Helferinnen und Helfer zum Mitmachen bewegte, welche Reaktionen die Prozession bei Passantinnen und Passanten auslöste und welche Gespräche sich in der Alten Spitalskirche mit Experten entwickelten – das alles und mehr hören Sie in der letzten Episode.
Gestaltung: Ágnes Czingulszki; Musik: Benedikt Unterberger; Sprecher, Aufnahmeleiter Musik: Johannes Felder;
Bewegte Bilder vom Gedenk-Einsatz
Aus vielen einzelnen Fotos der Dokumentation vom Gedenk-Einsatz am 5. Mai gestaltete der Fotograf Günter Richard Wett ein Video, das den Tag Revue passieren lässt.
Video: Günter Richard Wett; Musik: Benedikt Unterberger; Audio: Johannes Felder;
Mehr zum Thema ...
... Deserteure der Wehrmacht, ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer und Erinnerungskultur bietet die folgende Auswahl an wissenschaftlichen Arbeiten und zivilgesellschaftlichen Initiativen.
Erschießung wird durchgeführt ...
Text über die Geschehnisse rund um den ehemaligen Steinbruch am Paschberg, der als Hinrichtungsstätte von desertierten Soldaten der Wehrmacht diente.
Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in Wien
Chronik des Prozesses der gesellschaftlichen, politischen und juristischen Rehabilitierung der Verfolgten der NS-Militärjustiz in Österreich
Deserteure der Wehrmacht
Forschungsprojekt am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck zu Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität und Vergangenheitspolitik (durchgeführt von November 2019 bis Oktober 2022)
WER WIDERSTAND? Deserteure der Wehrmacht und wer ihnen half.
Ausstellung der Ötztaler Museen im Rahmen des Schwerpunktes "NS-Zeit im Ötztal" von 27. März bis 23. Oktober 2025
Gedeckelte Auseinandersetzung
Gespräch über Denkmalkultur und die große Verwirrung um Helden, Täter und Opfer von 2006
Goldegger Widerstand – Plattform für regionale Erinnerungskultur
Im Konflikt um ein angemessenes Erinnerungszeichen für die Wehrmachtsdeserteure von Goldegg und die Opfer des "Sturms" am 2. Juli 1944 haben sich viele Unterstützerinnen und Unterstützer zusammengefunden.
Beteiligte
Projektteam
Nadia Botrugno (Verteilen Andenkenbild), David Christian (Bau Stein-Trage), Ágnes Czingulszki (Audioreportage), Johannes Felder (Kampagne, Audioproduktion), Irene Heisz (Kommunikation, Text), Verena Nagl (Fotodokumentation), David Peric (Videodokumentation), Richard Schwarz (Konzept, Koordination), Benedikt Unterberger (Musik), Sophia Vonmetz (Verteilen Andenkenbild), Charly Walter (Bau Stein-Trage), Günter Richard Wett (Fotodokumentation);
Trägerinnen und Träger des Steins und ihre Zugänge
- Alexander Jünnemann "Eine innovative Art des Gedenkens, wo auch die Gesellschaft aktiv miteinbezogen wird. Gegen das Vergessen."
- Christian Schwarzer "Was hätte ich getan, wenn das Richtige tun, das eigene Leben kostet?"
- Christine Zucchelli "Es ist wichtig, Tabuthemen – wie eben die Desertation – aufzuarbeiten, und der Gedenk-Einsatz mit dem Stein regt auf wunderbar unkonventionelle Art zur Auseinandersetzung mit dem Thema an."
- Florian "Desertieren und der damit verbundene Gewissenskonflikt aller Beteiligten verdient mehr Aufmerksamkeit und vor allem eine differenzierte Betrachtung."
- Fredi "Erinnern ist enorm wichtig, gerade an jene, die den Mut hatten, sich zur Desertion zu entscheiden und dies auch umzusetzen (trotz des Risikos, dafür hingerichtet zu werden)."
- Klaus Ried "Desertion mag zwar immer noch ein militärisches Vergehen sein, jedoch für mich ist das heldenhaft."
- Maria-Luise Mayr "Das Thema, die Idee und Konzeption des Projektes hat mich angesprochen und ich bin einfach meiner Neugierde gefolgt - die wurde im Laufe des Tages immer größer."
- Martin Schönherr "Heimat ist nicht immer heimelig. Aber das Unheimliche gehört ebenfalls dazu."
- Philipp Lehar "Gemeinsam mit anderen 80 Jahre nach Kriegsende ein Zeichen gegen das Vergessen setzen."
- Sabine "Mein Onkel wurde in Norwegen als Deserteur von der eigenen Truppe erschossen."
Austausch, Gespräche und Information
- Herbert Bauer (Militärkommandant von Tirol a.D.)
- Matthias Egger (Stadtarchiv Innsbruck)
- Nikolaus Hagen (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck)
- Peter Hellensteiner (Fachzirkel Exekutivgeschichte, Historisches Archiv LPD-Tirol)
- Roland Irnberger (Verein "Goldegger Widerstand – Plattform für regionale Erinnerungskultur")
- Philipp Lehar (Archiv der Diözese Innsbruck)
- Helmut Muigg (Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen, Projekt "Die Vergessenen vom Paschberg")
- Christina Müller (Projekt "Die Vergessenen vom Paschberg")
- Peter Pirker (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck, Projekt "Deserteure der Wehrmacht in Tirol")
- Harald Stockhammer (Justizgeschichte)
- Anton Walder (Fachzirkel Exekutivgeschichte, Historisches Archiv LPD-Tirol)
Unterstützung
Freies Radio Innsbruck – FREIRAD; Innsbrucker Verkehrsbetriebe und Stubaitalbahn GmbH; Kirche im Herzen der Stadt - Alte Spitalskirche (Dominik Höchtl); Tiroler Landesmuseen (Tiroler Volkskunstmuseum);
Kontakt
Das Projektteam erreichen Sie unter brief@desertieren.info.
Impressum
islandrabe
Richard Schwarz, Kaiserbergstraße 11, 6330 Kufstein
E-Mail: brief@islandrabe.com
Text: Irene Heisz
Gestaltung, Programmierung: Richard Schwarz
Beratung: Johannes Felder
Fotos: Verena Nagl, Günter Richard Wett
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